Buchpräsentation Kindheit, Jugend und Familie in Vorarlberg 1861 bis 1938
Der Kuppelsaal der Vorarlberger Landesbibliothek bot einen stimmungsvollen Rahmen für die Vorstellung der 57. Schriftenreihe am 22.11.2012, welche vom Vorarlberger Kinderdorf in Zusammenarbeit mit der Rheticus-Gesellschaft herausgegeben wurde. Über 120 Gäste aus dem ganzen Land nahmen an der Veranstaltung teil.
Drohung Jagdberg
„Wenn ihr nicht brav seid, dann kommt ihr auf den Jagdberg“, mit diesem Spruch eröffnete Christoph Hackspiel, Leiter des Vorarlberger Kinderdorfs den Abend. Und schilderte dann eine ganz persönliche Geschichte, als sein Jugendfreund Bernhard von einem Tag auf den anderen nicht mehr in der Schule erschien und die Lehrerin den Kindern mitteilte, dass er nun auf dem Jagdberg sei. "Was für ein grauenvoller Ort musste das sein, weit oben auf Berg, wo man mutterseelenallein von Erwachsenen gejagt wird, nur weil man zuhause oder in der Schule nicht brav genug gewesen war", so Hagspiel weiter. Tausende von Kindern in Vorarlberg bekamen diesen legendären Satz zu hören, ob als saloppe Warnung oder als konkrete Drohung. Immer dann, wenn den Maßregelungen zu Hause oder in der Schule Nachdruck verliehen werden sollte.
Heile Familie
Die Anwendung von körperlicher Gewalt wurde 1974 verboten, aber leider werden im Jahre 2012 im familiären Umfeld noch über zwei Drittel körperlich gestraft und jedes zehnte Kind immer wieder geprügelt. Das Bild der "heilen Familie", war und ist auch heute so gut wie immer noch eine Illusion. "Und so sei es dem Kinderdorf wichtig gewesen, ein Bild der Lebenswelt von Kindern, Jugendlichen und Familien in Vorarlberg aufzuzeigen, auch als Lehre aus der Geschichte", betonte Hagspiel.
Zwei Autoren
Buchautor und Historiker Gerhard Wanner zeichnet in dem neuen Buch die Sozialgeschichte von Kindheit, Jugend und Familie im Spiegel der Vorarlberger Presse von 1862 bis 1914 nach. Bei der Buchpräsentation wurden von ihm sowie dem Obmann der Rheticus-Gesellschaft Albert Ruetz einige Passagen aus dem Buch vorgetragen. Sehr bedrückende Geschichten aus verschiedensten Lebensbereichen ließen so manchen Zuhörer "schlucken". Der zweite Autor, Pädagoge Johannes Spies hat im zweiten Teil des Buches die Geschichte des "Kinderrettungsvereins", der ersten Vorarlberger Kinder- und Jugendwohlfahrtseinrichtung von 1880 bis 1938 aufgearbeitet. Unter dessen Leitung entstand auch die berüchtigte Erziehungsanstalt Jagdberg. Heute ist Jagdberg eine „sozialpädagogische Schule“, das Vorarlberger Kinderdorf ist seit zehn Jahren Schulerhalter. Auch Autor Spies präsentierte einige Auszüge aus dem Buch und jedem der Anwesenden wurde sofort klar, dass das keine "gute Zeit war", was die Kinder damals erlebten. Denn die Menschen lebten in Armut, ein uneheliches Kind war geächtet, es gab Kinderarbeit in Fabriken, die katholische Kirche hatte nur Verbote und die Kindererziehung war alles andere als gewaltfrei und viele wurden ausgegrenzt. Eigentlich auch Parallelen zu heute. Das Buch ist lesenswert und zahlreiche Menschen werden vielleicht die eigene Geschichte darin wiederfinden.
(Bericht und Fotos Helmut Köck, November 2012)